Im letzten Beitrag ging es um "herausforderndes Verhalten" und die Notwendigkeit dies als Ausdruck für Probleme oder "Missstände" in einem System zu erkennen und diese neu zu gestalten, damit das Verhalten sich auflösen kann.
Heute geht es darum, was ein solches Verhalten eigentlich in uns auslösen sollte: nämlich still zu werden.
Und genau das passiert selten. Prinzipiell reagieren wir, in einer von uns gelernten Art, auf "Fehlverhalten". Wir reagieren meist unbewusst und im jeweiligen Überlebensmodus, in den uns unser Nervensystem (weil Gefahr/Angriff droht) versetzt.
Doch um sinnvoll, professionell und beziehungsförderlich auf ein solches Verhalten zu reagieren, ist es wichtig, dass du lernst eine Pause zwischen den Reiz und deine Reaktion zu schieben. Diese Pause gibt es bereits. Doch sie ist meist so kurz, dass wir ihn gar nicht so recht mitbekommen und stattdessen unsere Emotionen übernehmen lassen.
Ein Beispiel:
Du bist in deinem Raum und gehst einer Aufgabe nach, als du im Flur einen Streit lauter werden hörst. Du erkennst nach kurzer Zeit die Stimmen der Kinder und dass der Streit nicht geklärt wird, sondern immer heftiger wird. Also läufst du in den Flur und kommst genau in dem Augenblick in die Situation, in der ein Kind, das an der hinteren Wand steht, das andere Kind zu Boden stößt. Du folgst weiter deinem Impuls und spürst, wie du bereits wütend geworden bist und schimpfst laut, dass "hier nicht geschubst wird!" Der Impuls weiter zu schimpfen, all deine angestaute Wut über die Situation, über die Tatsache, dass es wieder genau dieses Kind war, was sich prügelt und dein Entsetzen darüber, dass das andere Kind am Boden liegt, möchtest du gern ungehindert rauslassen. Natürlich erwachsen. Du bist ja im Job, deshalb musst du etwas gedämpfter sein. Aber diese Gefühle in dir brodeln an die Oberfläche und du schimpfst, bist fokussiert auf den vermeintlichen Angreifer und bäumst dich vor ihm auf...
UND genau da ist der (späteste) Punkt bereits überschritten, an dem du eigentlich ganz still werden müsstest. Spulen wir noch mal ein paar Sekunden zurück, als du in den Flur kommst und dich zu dem am Boden liegenden Kind wendest. Das ist der Moment, in dem du überprüfen solltest, in welcher Verfassung sich welches Kind befindet und wie es in dir selbst aussieht. Damit ist nicht nur die körperliche Verfassung, sondern auch die mentale und emotionale gemeint. In einer so hoch aktivierten Situation können wir nicht erwarten, dass der Streit ausschließlich verbal abläuft. Deshalb könnte es in der akuten Situation absolut ausreichen zu sagen, dass der Streit an dieser Stelle unterbrochen ist und jeder erstmal wieder zu sich kommen muss. Erst dann kann die Situation "vernünftig" geklärt werden. (Dazu später mehr!)
Um das wirklich gut zu schaffen wäre es sogar schon sinnvoll gewesen, zu spüren, dass allein das Hören eines Streits im Flur, aber spätestens das Erkennen, wer da streitet, in dir etwas auslöst, was deinen "Kampfimpuls" (autonomer Überlebensmodus) aktiviert. Du könntest deine Gedanken hören: "Immer dieser Junge, der prügelt sich gerade immer zu. Das kann doch nicht wahr sein!" Du könntest spüren, dass sich deine Muskeln anspannen und dein Atem und dein Herz schneller gehen. Du könntest erkennen, dass du dich wirklich nicht mehr auf den Raum konzentrieren kannst, in dem du bist, weil du gedanklich schon einschreitest.
Wenn du all das gespürt und erkannt hättest, dann könntest du für deine Interpretationen und Gefühle, sowie Körpersignale Verantwortung übernehmen und dich "rasch" wieder regulieren, damit du wirklich wach in die Situation auf dem Flur gehen kannst. Denn dein Gehirn wäre dann nicht ebenfalls von Emotionen geflutet und würde dich deutlich kontrollierter handeln lassen. Du könntest professionell in den Streit eingreifen und den Kindern helfen, wirklich effektiv etwas anders zu machen. Anstatt durch Nichtwissen und Spekulieren aufgebracht und voller Emotionen Partei zu ergreifen und deinen Frust rauszulassen. Denn damit ist am Ende nichts gewonnen. Mehr noch sind Vertrauen, das Gerechtigkeitsgefühl und die Integrität zumindest des schubsenden Kindes verletzt. Was zu weiterem "Fehlverhalten" führen kann.
Doch ist dieses Spüren in der Akutsituation oft nicht so leicht und bedarf einiger Übung.
Ein wichtiges Mittel ist deshalb die REFLEXION!
Im Nachgang erforschen, wie du mit der Situation umgegangen bist. Ob du so reagieren wolltest. Was du erlebt hast....eben Verantwortung für dein eigenes Verhalten übernehmen. Denn für deine Gefühle und Emotionen ist nie jemand anderes verantwortlich als du selbst. Denn es sind deine Bewertungen, alten Muster und Glaubenssätze, die dich anders reagieren lassen, als du es wolltest oder (im Sinne gelingender Beziehungen) solltest.
Im Fall des Beispiels aus dem letzten Beitrag könnte das heißen:
Anstatt sich von den Forderungen und dem Verhalten der Eltern verunsichern zu lassen, hätten die Fachkräfte (auch nach der ersten oder auch 10. Situation, denn dafür ist es nie zu spät!) sich überprüfen können:
- Was machen die Forderungen und das Verhalten der Eltern mit mir/ uns?
- Empfinde ich mein Verhalten in der Situation als richtig oder spüre ich eigentlich, dass sich in mir etwas dagegen wehrt?
- Warum reagiere ich so, obwohl ich es (in der Situation und/oder danach) als nicht richtig empfinde?
- Habe ich den Eltern klar gemacht, was meine/ unsere Aufgaben sind?
- Ist ihnen klar, wie ihre Art bei mir/ uns ankommt? Und ist ihnen klar, dass ich das als unangemessen empfinde?
Ihnen
hätte auffallen können, dass sie das Verhalten der Eltern verstärken,
in dem sie den Forderungen (widerwillig) nachgeben und nicht auf ihre
Grenzen achten.
Und
noch einmal möchte ich betonen, dass es nicht darum gehen soll, das
Verhalten der Eltern zu entschuldigen. Aber es MUSS darum gehen, welchen
Beitrag alle Seiten dazu leisten, damit die Situation so verlaufen
kann, wie sie es in diesem Team tat.
Die
Fachkräfte könnten damit vieles für sehr viele leichter gestalten, wenn
sie sich solchen Fragen stellen würden. Doch leider ist das bisher eher
die Ausnahme, die mir in der Praxis begegnet. Öfter erlebe ich zwei
Fronten, zwischen denen die Kinder in einen Loyalitätskonflikt kommen
und ebenfalls zu Verhaltensweisen greifen müssen, die die Erwachsenen in
diesem Spiel herausfordern können. Wir sind Vorbilder dafür, wie
zwischenmenschliche und selbstfürsorgliche Beziehungen funktionieren.
Die Frage bleibt also, was die Kinder dieser Gruppe aus dem Verhalten
aller Erwachsener lernen werden.
Fazit bleibt:
- Wir alle dürfen wieder mehr spüren, wie es uns in unterschiedlichen Situationen geht.
- Wenn wir es schaffen, kurz inne zu halten (oder wenigstens nachträglich darüber zu reflektieren), dann haben wir eine Chance, eine wirkliche Entscheidung zu treffen. All das bedarf Übung und Nachsicht mit uns selbst.
- Es bedarf aber auch der verinnerlichten Erkenntnis, dass uns Dinge nicht einfach "passieren", sondern dass jeder innerhalb eines Systems einen Beitrag dazu leistet, wie die Atmosphäre ist. Das passiert nicht immer direkt.
Die gute Nachricht daran: genauso können wir auch Einfluss darauf nehmen, dass sich Dinge im System zum Positiven verändern.