In einem Instagrambeitrag von Uschi Drude wurde kürzlich eine Frage aufgeworfen, die in pädagogischen Kontexten immer wieder heiß diskutiert wird und mir auch in meiner Arbeit oft begegnet:
Würden mehr Personal, mehr Zeit, mehr Räume wirklich helfen, damit wir Kindern zugewandter, entspannter und präsenter begegnen können?
Eine berechtigte Frage – und eine, die auf den ersten Blick scheinbar einfach zu beantworten ist.
Die Illusion vom „Mehr“
Meine Erfahrung – sowohl aus der eigenen Zeit in Einrichtungen als auch aus zahlreichen Seminaren und Teamcoachings – ist überraschend:
Mehr Personal führt nicht automatisch zu mehr Qualität. Manchmal sogar im Gegenteil.
Denn je mehr Menschen da sind, desto leichter passiert es, dass Verantwortung diffus wird. Dass man sich darauf verlässt, „die anderen“ würden sich schon kümmern. Dass weniger verbindliche Absprachen getroffen werden – und weniger Selbstverantwortung übernommen wird.
Klar: Eine konstant gute Besetzung ist wünschenswert. Sie schafft überhaupt erst die Basis, um in Beziehung zu gehen, auf Bedürfnisse zu reagieren und pädagogisch sinnvoll zu begleiten.
Aber: Wenn Haltung, Kommunikation und Verantwortung nicht mitwachsen, verändert sich am Kern nichts.
Warum Haltung unter Stress zerbricht
Diese Beobachtung lässt sich auch neurobiologisch erklären. Denn all die Dinge, die ein gutes Miteinander ausmachen – also z. B. klare Kommunikation, ehrliche Rückmeldungen, Mitverantwortung, gegenseitige Regulation – sind nur zugänglich, wenn wir uns innerhalb unseres Stresstoleranzfensters befinden.
Unsere Haltung – also unsere bewusste innere Einstellung und Entscheidung – funktioniert vor allem dann, wenn unser Nervensystem im sogenannten social engagement system aktiv ist. Dieser Bereich ist die Voraussetzung für Verbindung, Reflexion und Zuhören.
Sobald wir aber dauerhaft unter Stress stehen (und das tun viele Fachkräfte im pädagogischen Alltag), verlassen wir dieses Fenster.
Und dann…
… greifen automatisch alte Schutzstrategien.
… re-agieren wir statt zu agieren.
… greifen Muster, die nicht aus unserer Überzeugung, sondern aus Überleben entstehen.
Warum weniger manchmal mehr Klarheit bringt
Man könnte jetzt sagen: Na gut, dann brauchen wir halt mehr Personal, um den Stress zu senken!
Stimmt. Und stimmt auch in gewisser Weise wieder nicht.
Denn: Stress schärft an manchen Stellen auch den Fokus. Lass uns das in einem Beispiel ansehen:
Da ist eine steinzeitliche Jagdgruppe, die seit Tagen nichts gegessen hat: Es wird nicht lang diskutiert, sondern klar abgesprochen, wer was übernimmt. Jeder weiß, dass er gebraucht wird – und trägt Verantwortung.
Diese Art von Klarheit entsteht nicht durch Entspannung, sondern durch Druck. Und obwohl sie funktional ist, basiert sie nicht auf echter Verbindung, sondern auf ÜbÜberlebensmodus.
Wenn das lange so war und in sehr vielen Einrichtungen ist das der Normalfall, passiert etwas spannendes, wenn mehr Personal da ist:
Sobald dann doch mal etwas mehr Sicherheit ins System kommt – weil z. B. das Team aufgestockt wurde – passiert oft Folgendes:
Denn das Nervensystem merkt: Jetzt darf ich ein bisschen loslassen.
Aber genau dann braucht es Begleitung. Regulation. Achtsame Prozesse.
Was es wirklich braucht
Aber sie sind nur die halbe Lösung.
Die andere Hälfte liegt in jedem einzelnen von uns.
In unserer Fähigkeit, uns selbst zu regulieren.
Uns zu spüren.
In Beziehung zu gehen.
Und bewusst Verantwortung zu übernehmen – für das eigene Handeln, für die eigene Haltung.
Denn Stress ist nicht das tiefliegende Problem. (ich höre euch schon schreien "Waaas? Bist du verrückt? Na klar ist es das! 🫣)
Unregulierter Stress ist es.
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