Montag, 16. Juni 2025

Durch die Nervensystemsbrille (1)

In diesem Artikel starte ich eine neue Reihe auf diesem Blog. Es geht darum stinknormale Alltagssituationen aus Familien, Kitas oder Schulen durch die Nervensystemsbrille zu betrachten und dadurch ein neues Verständnis zu bekommen und Ideen zu entwickeln, wie es zu einem nervensystemsfreundlicheren Handeln und Umfeld kommen kann.

Die heutige Situation ist folgende:

Der Sohn sagt nach dem letzten Besuch, er möchte nicht mehr zu Oma, weil er sich dort nicht verstanden oder echt gesehen fühlt.

Der Vater reagiert verunsichert, versucht, mit ihm darüber zu sprechen – und schlägt vor, er (der Sohn) könne das Oma selbst erklären.
Der Sohn schweigt.
Stattdessen bekommt er eine Nachricht von Oma: „Ich bin sehr traurig über das, was ich gehört habe. Ich hatte mich so auf dich gefreut…“

Was in ihnen passiert
💭 Innere Stimme des Vaters:
„Ich versteh meinen Sohn – irgendwie.
Aber ich will auch nicht, dass meine Mutter denkt, sie sei ihm nichts mehr wert.
Ich will nicht zwischen den Stühlen sitzen.
Warum sagt mein Sohn das nicht einfach selbst? Er ist doch kein kleines Kind mehr.“
💭 Innere Stimme des Sohnes:
„Ich will nicht, dass Oma traurig ist. Aber ich will auch nicht wieder dahin.
Sie fragt nicht wirklich, wie’s mir geht. Sie erzählt viel, kommentiert, wie ich aussehe, was ich machen soll…
Ich will nichts erklären. Ich will einfach nur… nicht hin müssen.“
💭 Innere Stimme der Oma:
„Ich verstehe das nicht. Ich gebe mir Mühe.
Ich hab mich so gefreut, dass er kommt – und jetzt sowas?
Warum sagt er denn nichts direkt zu mir? Ich bin so enttäuscht. Und verletzt.“

Durch die Nervensystemsbrille 

🧠 Nervensystem des Kindes:
„Ich bin in einem Zustand zwischen dorsal (Erstarrung) und sympathisch (Schutz/Rückzug).
Ich will nicht kämpfen. Ich will keine Schuldgefühle.
Aber ich hab keine Kapazität, mich zu erklären. Das fühlt sich nach Gefahr an. Ich muss uns schützen, indem ich ihn still mache.“

🧠 Nervensystem des Vaters:
„Ich bin in Aktivierung: Ich versuche zu vermitteln, zu erklären, zu retten. Das ist so anstrengend und unkomfortabel.
Ich verliere die Verbindung zu beiden.
Ich fühle mich ohnmächtig – also drücke ich meinen Sohn indirekt zur Verantwortung. Dann muss ich jetzt nichts weiter tun.“

🧠 Nervensystem der Oma:
„Ich erwarte Nähe – bekomme aber Rückzug.
Das löst Enttäuschung, vielleicht sogar alten Bindungsschmerz aus.
Ich reagiere nicht mit Wut – sondern mit Trauer und stillem Druck: ‚Schade, dass du mich so behandelst…‘, Wut ist dabei aber nicht erlaubt, denn sie ist gefährlich."

💡 Was in dieser Szene sichtbar wird:
Das Kind vermeidet nicht aus Respektlosigkeit, sondern aus Überforderung.
Der Vater steht zwischen Loyalitäten – ohne regulierte Klarheit.
Die Großmutter sucht Verbindung, aber erzeugt emotionale Schuld – ungewollt.
Und niemand erkennt sich (und seine Geschichte) dabei selbst oder ist tatsächlich in der Lage, die Perspektive des anderen einzunehmen und zu vefstehen. Keine Beziehung zwischen den Beteiligten, nur Trennung.

💬 Was helfen könnte:
Nicht: „Du musst das sagen.“
Sondern: „Ich sehe, dass dir das schwerfällt. Du musst dich nicht erklären – aber du darfst klar für dich sorgen.“
Oder auch:
„Mama, ich weiß, du bist traurig.
Aber vielleicht ist gerade wichtig, dass wir hören, was mein Sohn fühlt – und ihm das nicht mit Traurigkeit aufladen.“
Doch genau dafür bräuchte der Vater ein klarer reguliertes Nervensystem in Sicherheit. Oder die Oma könnte mit einem regulierteren Nervensystem erkennen, was ihr Anteil an der Geschichte ist und sich auf den Enkel zubewegen, sein Anliegen ernstnehmen und künftig anders auf ihn eingehen. Der Junge ist das Kind. Er hat nicht gelernt, seinen Stress anders als mit Rückzug zu beantworten.

🧭 Und aus NOE*-Sicht?
Dies ist ein Paradebeispiel für:
- Co-Regulationsbedarf auf allen Seiten
- Verwechslung von Bindung mit Harmoniepflicht
- Unklarheit über Zuständigkeit in Beziehungsklärung

In der nervensystemsorientierten Entwicklungsbegleitung (NOE*) geht es darum, sowohl meinen eigenen Nervensystemszustand, als auch den der anderen Personen immer besser zu erkennen und zu verstehen und nervensystemsorientiert zu agieren. Dafür braucht es zu allererst einen günstig regulierten Erwachsenen, der diesen Weg startet.
Du musst damit nicht warten, bis du "fertig reguliert bist". Sondern du kannst direkt starten. Heute. Mit jedem Fitzel an Wissen und Selbsterleben in deinem Körper veränderst du eure Welt. Du bildest eine Schutzinsel für dein Nervensystem, für die der Menschen, die du begleitest und mit denen du diese Aufgabe gemeinsam gestaltest. Und mit jeder Insel verändern wir die Landkarte.

Wenn du dabei Unterstützung möchtest, dann bin ich super gern für dich da! Alle Informationen zu meinem Begleitungsprozess findest du HIER
Ich freue mich auf dich!

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