Samstag, 15. Juni 2024

Stress darf niemals eine Ausrede für schlechte Pädagogik sein!


 In diesem Artikel möchte ich von meinen jüngsten Erfahrungen mit gewaltvollem Verhalten von pädagogischen Fachkräften gegenüber Kindern, berichten. Im Zuge meiner Arbeit komme ich mit vielen Menschen aus dem pädagogischen Bereich zusammen. Dabei stehen überproportional häufig die Themen Stress und schlechte Rahmenbedingungen im Mittelpunkt. Das wird erstmal nicht weiter überraschen, denn diese Themen sind Dauerbrenner im Bildungsbereich. Genauso wie das daraus häufig resultierende Thema der überforderten Fachkräfte. Und niemand wird leugnen können, dass die Situationen in den allermeisten Einrichtungen tatsächlich grenzwertig sind und dass es sich für viele Fachkräfte wie ein täglicher Überlebenskampf mit und (zum Glück auch oft) für die Kinder anfühlt.

Doch was ich nicht mehr stehen lassen kann, ist der Fakt, dass viele Fachkräfte dem steigenden Stress und den schlechten Rahmenbedingungen weiterhin die Schuld dafür geben, dass ihr eigenes Verhalten nach schwarzer Pädagogik schmeckt!

Da begegnet mir bei einer Hospitation eine Erzieherin mit ihrem Team, die alle sehr erschöpft wirken, lustlos und irgendwie desorientiert, in einem großen Bewegungsraum. Ein Teil der gemischtaltrigen Gruppe ist damit beschäftigt kleine Autos durch eine lange Teppichrollenröhre fahren zu lassen, die sie mühsam aufgebockt haben, um eine schiefe Ebene zu erhalten. So viel Freude, Spannung und gemeinsames Tun stecken in dieser Tätigkeit. Ein älteres Mädchen (ca.5 Jahre) kommt zu denn jüngeren Kindern hinzu, weil die Gemeinschaft und das Lachen der Kinder sie neugierig gemacht haben und sie aus ihrem eigenen Spiel in einem kleinen Zelt gelockt haben. Ihre Augen leuchten, als sie bei der Kindergruppe an der schiefen Ebene ankommt. Da kommt die Erzieherin aus dem Bad dazu. Ihr ohnehin schon ernstes und lustloses Gesicht zeigt plötzlich Ärger, als sie das Mädchen bei den jüngeren Kindern stehen sieht. Sie drängt sich zwischen das Mädchen und die Kindergruppe, setzt sich und sagt: "Du hast doch da drüben gespielt! Hier spielen jetzt die Kleinen! Geh weg hier und lass sie in Ruhe!" Das Mädchen und ich sind von dem harschen Ton und der Situation mehr als überrascht und sehr getroffen. Sie zieht sich unversehens ins Zelt zurück und ich kann sie wimmern hören. Eine weitere Erzieherin kommt rein. Sie geht zum Zelt und fragt das Mädchen, weshalb sie weint. Ich kann hören, dass sie sagt, dass sie traurig ist. Die Erzieherin bittet sie rauszukommen und mit ihr in den anderen Raum zu kommen. Sie nimmt sie an die Hand. Auf dem Weg durch den Raum spricht sie ihre Kollegin an. Nicht auf die Abweisung des Mädchens, wie ich erst hoffte. Die erste Erzieherin spannt sich bereits an. Doch die hinzugekommene Erzieherin spricht: "X ist traurig, weil ihre große Schwester heute nicht da ist!" Die erste Erzieherin sagt nichts zur vorhergehenden Situation und nickt nur. Keine von beiden hat das Mädchen gesehen. Beide sind ihr nicht gerecht geworden. Das Mädchen wird nicht etwa getröstet. Sie wird mit folgenden Worten an den Tisch gesetzt: "Da musst du doch überhaupt nicht weinen! Spiel mal bei den Kindern am Tisch mit Karten!" Und dann verlässt die Erzieherin wieder die Situation.

Oder eine andere Situation: Ein Junge (ca.2,5h) kommt nach Kranktagen wieder in die Einrichtung. Die Übergabe verläuft angespannt. Es wird klar, dass zwischen den Beteiligten viel Unausgesprochenes steht. Im Laufe kurzer Zeit geht es dem Kind immer schlechter. Er zieht sich zurück. Kuschelt sich abseits der spielenden Kinder ein. Die Erzieherin, die im Raum ist, scheint ihn gar nicht weiter wahrzunehmen. Eine andere Erzieherin kommt in den Raum, kniet sich zu ihm und sagt: "Es ist noch gar nicht Schlafenszeit! Komm mal mit rüber, da kannst du mit den anderen spielen!" In den nächsten Minuten sitzt er teilnahmslos am Tisch. Er baut weiterhin ab. Ich mache eine vorbeikommende Erzieherin auf den Jungen aufmerksam, und sage, dass ich den Eindruck habe, dass es ihm nicht gut geht. Sie entgegenet mir: "Kann sein. Der hat sicher heute Morgen ein Zäpfchen gekriegt, das jetzt nachlässt." Dann verschwindet sie wieder in "ihrem" Raum. Der Junge schleppt sich so durch den Vormittag, er spielt nicht, legt immer wieder den Kopf auf den Tisch. Die Fachkräfte rufen nicht die Eltern an oder spenden dem Kind Trost und Aufmerksamkeit. Essen will er nicht, er darf sich aber auch noch nicht hinlegen. Immer wieder mache ich die Fachkräfte auf die Situation des Kindes aufmerksam. Sie ärgern sich derweil nur lautstark über "diese Eltern". Ich bin restlos entsetzt und war nun schon zum zweiten Mal bei der Leitung.

Als ich Rückmeldungen zu meinen Gesamtbeobachtungen im Team gebe, die durch andere, wundervoll kindorientierte Gruppen stark aufgewertet wurden, ziehen sich die Erzieherinnen mit ihrem Fehlverhalten, die positiven Aussagen an. Sie freuen sich und sind stolz auf ihre tolle Arbeit. Die Aussagen über beobachtetes Fehlverhalten scheinen sie komplett zu missachten. Das spreche ich an, ohne konkret eine einzelne Person in der Gesamtgruppe anzusprechen. Eine andere Erzieherin (die ebenfalls mit fragwürdigen Methoden vorging) stieg dann ein und beschwerte sich über die hohe Belastung, die mieserablen Rahmenbedingungen und die schlechte Zusammenarbeit mit den Eltern. Sie rechtfertigte Verhalten mit Stress und Überlastung. Sie wurde immer energischer. Ich gab in meiner Rolle als Externe Evaluatorin die Aufgabe, dass sich das  gesamte Team dringend noch einmal mit Adultismus, grenzverletzendem Verhalten und der bereits erarbeiteten Verhaltensampel auseinandersetzen muss. Zusätzlich müsste sich das Team über eigene Grenzen und Erziehungspartnerschaft dringend ein positiveres und ressourcenorientierteres Verständnis entwickeln, da ihr Umgang in einzelnen Fällen zu negativen Folgen für die Kinder führte. Zum Glück waren das gesamte Leitungsteam, die pädagogische Fachberatung und die Qualitätsbeauftragte anwesend und nehmen diese Aufgaben ernst.

Von solchen Erlebnissen könnte ich noch unzählige weitere berichten.

Tatsächlich ist es so, dass Stress und schlechte Bedingungen ein Dauerthema in den Einrichtungen sind. Und aus hirnphysiologischer Sicht stimmt der Vorwurf, dass bei Stress auf alte und häufig ungünstige Verhaltensweisen zurückgegriffen wird. Wenn Fachkräfte dies aber genau wissen, dann sind sie in keinem Fall unwissend über die Situation, sondern mehr als verantwortlich daran etwas zu verändern. Die geschilderten Situationen fanden zudem nicht mit "Kindern mit auffälligem und herausforderndem Verhalten" statt, oder in einer übervollen Gruppe mit nur einer Fachkraft oder in einer ungünstig gestalteten Übergangssituation statt, die einen hohen Überforderungscharakter aufwiesen. Sie waren die Haltung und unreflektierten Verhaltensweisen von Fachkräften, die mit einer Minimalanzahl von Kindern durch einen eigentlich als entspannt bezeichenbaren Vormittag gingen. 

Selbst angestauter Stress darf niemals zu solchen Situationen führen. 

Und die Frage bleibt: Wer ist für dein Stresserleben maßgeblich verantwortlich?

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